Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin die Riviera. Auf der Landkarte werde ich nicht als « Tal » bezeichnet, dabei bin ich ein echtes Tal, das in die Alpen eindringt. Ich verbinde die Magadinoebene und den Raum um Bellinzona (Bellinzonese) mit dem Valle di Blenio und der Leventina. Ich bin ein Tal aus Stein und Wasser. Der semantische Ursprung meines Namens ist eng mit dem Wasser verbunden: Als Riviera bezeichnet man das Ufergebiet eines Gewässers (Fluss, See oder Meer). Hier, wo der Fluss Ticino auf die Ebene trifft, ist ein alpenweites einzigartiges Ufergebiet mit zahlreichen Auen und Auenwäldern entstanden. Dann ist da noch meine mineralische Komponente – das Gestein –, das nicht nur massgeblich die Orographie und die Morphologie bestimmt, sondern auch während Jahrzehnten im Zentrum der wichtigsten industriellen Tätigkeit stand, wie die zahlreichen granitischen Gneis- und Marmorsteinbrüche bezeugen.
Am Anfang war ich nur Gestein. Die Geschichte der Gesteine,
aus denen ich zusammengesetzt bin, ist sehr lang: 300
Millionen Jahre. Ich bestehe hauptsächlich aus verschiedenen
Arten von gneiss, die abgebaut werden
und in ganz Europa bekannt sind (siehe Den Stein bearbeiten).
Ein kleiner Teil von mir besteht auch aus Sedimenten
antiker Meere, die vor 250 bis 200 Millionen Jahren
viel weiter südlich und unter dem Einfluss eines tropischen
Klimas abgelagert wurden. Die daraus resultierenden
Gesteine sind Marmore und Kalziphyre,
die man vor allem in den Steinbrüchen von Castione bestaunen
kann (siehe Castione, Cave). Sie wurden verformt und
umgewandelt, als die grossen Plattenbewegungen zur Errichtung
der alpinen Gebirgskette führten.
Das Tal ist jedoch erst durch die Kraft des Wassers
und des Eises entstanden. Vor rund 7 Millionen Jahren,
noch vor dem Beginn der Eiszeiten, kerbten mich Flüsse
bis auf Meereshöhe ein. Die ungestümen Gewässer verwandelten
sich dann in den letzten 2.6 Millionen Jahren in Eis.
Durch den langsamen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten
(wir befinden uns aktuell in einer Warmzeit) habe ich
allmählich die heutige Gestalt mit all meinen Seitentälern
und Gipfeln wie dem Torrone Alto (2956 m) oder dem Pizzo
di Claro (2727 m) angenommen.
Nach dem Ende der Letzten grossen Eiszeit, etwa 14‘500
Jahren vor unserer Zeit, verwandelte sich die Farbe
meiner Felswände von Weiss (Eis) in Grau (Fels) und
schliesslich in Grün (Vegetation). Auch der Talboden
und die zahlreichen Schuttkegel, auf denen heute meine
Einwohner leben, begannen sich zu dieser Zeit zu bilden
(siehe Claro, Cappella di Lunu). Sie bestehen aus Stein,
Kiesel und Sand, die vom Fluss Ticino und den zahlreichen
Bächen der Seitentäler erodiert und transportiert wurden
(siehe Osogna, Colarga). Erwähnenswert sind auch die
zahlreichen Felsstürze und Überschwemmungen, insbesondere
der Felssturz des Monte Crenone vom 30. September 1513
und die darauffolgende Buzza (Überschwemmung) von Biasca
am 20. Mai 1515 (siehe Biasca, Borgo).
Meine Natur ist aber nicht nur von Gestein und Wasser
geprägt, sondern auch von üppigen Wäldern. Besonders
beeindruckend sind die Waldreservate der Valle d’Osogna
und der Valle di Cresciano sowie die schönen Auenwälder
in der Talebene (siehe Cresciano, Cavrì). Dann sind
da noch die stillen Zeugen der jahrhundertelangen Symbiose
zwischen Weide- und Waldwirtschaft: die
Riesenkastanien (siehe Claro, Moncrino).